Entwicklung und Tradition der Weidewirtschaft
in Stolberg/Harz
Die Bilder wurden von alten Schwarz-Weiß-Ansichtskarten gescannt und haben dadurch an Qualität verloren - nicht aber an ihrer Seltenheit.
Eine wertvolle Ausstellung, organisiert von Sonja Kirchner mit vielem Dank an Herrn Hans-Jürgen Schräpler, Stolberg, für die Bereitstellung der Ansichtskartensammlung, ohne die diese Ausstellung nicht möglich gewesen wäre.
Mit frdl. Genehmigung von
Alte Posthalterei Stolberg
Pro Harz Tourismus und Marketing GmbH
Niedergasse 50
06536 Südharz OT Stolberg
Karge Böden, arme Bewohner
'Der Harz mit seinen tiefen Täler, steilen Hängen und kargen Böden bietet wenig Möglichkeiten für eine ertragreiche Landwirtschaft.
Dies trifft auch oder insbesondere auf Stolberg mit seiner Lage, eingezwängt in 3 Täler, zu. Die Ernährungsgrundlage fehlte. Es gab in Stolberg nicht einen einzigen Bauernhof und auch wenig sonstige Erwerbsmöglichkeiten.So durchlebte die Stadt im 19. Jahrhundert mehrere Hungersnöte und viele Stolberger wurden zu Bettlern. 1855 wurden etwa 60 Stolberger durch eine Armenspeisung not-
dürftig versorgt.
Ackerbau war kaum möglich, einzig die Hochflächen außerhalb, z. B. Domäne Hainfeld, konnten bewirtschaftet werden. Was tun?
Die Stolberger terrassierten ihre Hänge und versuchten so, z. B. durch den Anbau von Kartoffeln, etwas Essbares in die Kochtöpfe zu kriegen. Ansonsten wurden die Hänge gemäht und das Gras mühsam zu Heu verwandelt, welches die Ernährungsgrundlage für Ziege oder Kuh im Winter bildete. Die Tragekiepen kamen zum Einsatz (Kiepenfrauen), um das Heu nach unten zu transportieren.
Fast jede Familie besaß Ziege(n) oder Kuh, wobei die Ziege auch als die Kuh des kleinen Mannes bezeichnet wurde. Das heißt, es gab viel mehr Ziegen als Kühe. So wurden Mitte des 20.Jahrhunderts in Stolberg noch ca. 400 Ziegen und „nur“ ca. 60 Kühe in den Herden gezählt. Die Milch, egal ob Ziege oder Kuh, wurde getrunken oder zu Butter verarbeitet. Einige „Bauern“ versuchten sich an der Herstellung von Käse – siehe weite rer Aushang.
Die Tiere hielt man in kleinen Schuppen hinter den Häusern, die fast alle direkt an die Hänge gebaut waren. Früh wurden sie vor den Häusern eingesammelt und auf die Höhen zum Weiden gebracht. Sie fraßen sich auf den Wiesen und im Wald satt.
Allerdings duldeten die Förster keine Ziegen im Wald („Allesfresser“, die jeden frischen Trieb vernichten). Abends kamen die Tiere in der Herde gemeinsam wieder „nach Hause“, um gemolken zu werden. Das Melken wurde meist den Frauen überlassen.
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Alte Postkarte: Austrieb einer Ziegenherde hinter dem Rittertor.
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Entwicklung und Tradition der Weidewirtschaft in Stolberg
Die Stolberger „Agrarwirtschaft“ beschränkte sich im Wesentlichen auf die Wiesen und das Weiderecht in den Wäldern.Hirten und Tierhaltung werden in Stolberg bereits im 15. Jahrhundert erwähnt und 1595 wurde das 1. Dekret zwischen dem Grafenhaus und der Gemeinde über Waldweide unterzeichnet. Die Stadt/der Bürgermeister waren immer die Vertragspartner des
Fürstenhauses und mussten die Festlegungen gegenüber den kuhviehhaltenden Gemeinden durchsetzen. Oft ging das Ganze bis zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Die Beweidung wurde wie folgt organisiert:
Die „Tierbesitzer“ taten sich zusammen und gründeten eine Art Genossenschaft, die im Falle der Rinder genannte „kuhviehhaltende Gemeinde“. In Stolberg waren es anfangs
3 (die der Neustadt, der Ritter-,Eselsgasse und Markt und die der Niedergasse). Um 1800 gab es nur noch 2 Ritter-und Niedergässler hatten sich zusammengeschlossen. Zwischen den Gemeinden fanden Rangeleien um die besten Hüteplätze statt.
Die Neustädter kuhviehhaltende Gemeinde ist eigentlich heute noch existent, allerdings ohne Kuh...
Die kuhviehhaltenden Gemeinden besaßen eigene Wiesen, Weiden und Triften. In jeder Gemeinde wurden 2 Gassenmeister gewählt. Ein wichtiges Amt! Es musste das sog. Gassenbuch geführt werden (in Stolberg gibt es die Bezeichnung Straße nicht, nur Gassen),
Protokoll- und Kassenbuch gleichzeitig. Jede „Gemeinde“ hatte einen Hirten angestellt, dessen Lohn sie gemeinsam finanzierten, sowie alle anderen anfallenden Kosten wie Triftgeld (Art Wegezoll), Deckgeld, Pachten, Reparaturen, Schreibegeld... Um Hirte zu werden, musste man sich bewerben. In Stolberg gab es keine sog. Hirtenfamilien generationsübergreifend. Es fand also eine Art
Ausschreibung statt. Die „Vollversammlung“ der kuhviehhaltenden Gemeinde prüfte die Bewerber und entschied. Das letzte Wort hatte allerdings der Magistrat der Stadt. Schließlich wurde vom Gassenmeister und dem ausgewählten Hirten ein Kontrakt (Arbeitsvertrag) abgeschlossen. Die bekanntesten Stolberger Hirten waren Emil Koch mit seinem Hund Phylax und sein Nachfolger, Emil Knabe, der bis zum Schluss der Weidewirtschaft „diente“. Über die Beiden berichten wir noch...
Über die ziegenhaltenden Gemeinden ist leider kaum etwas überliefert. Es gab auch Gänse-, Schweinehaltende Gemeinden...
Mit dem Verlust der Kuh- und Ziegenherden ging auch einher, dass die Wiesenhänge um Stolberg und die Waldwiesen nicht mehr beweidet und gepflegt wurden, immer mehr verwucherten und Bäume und Sträucher Besitz von diesen Flächen ergriffen haben. Das hatte zur Folge, dass der Ort zuwuchs und sich das Mikroklima veränderte (weniger Sonneneinstrahlung, fehlende Belüftung des engen Tals). Und schöne Aussichten gingen verloren.
Zwei Berichte von alten Stolberg-Bewohnern
„Eigentlich habe ich nur gute Erinnerungen an die Stolberger Kühe und Ziegen. Ich habe ja noch die Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt. Was war das doch für ein herrlicher Anblick, wenn bei einer Wanderung plötzlich melodische Glocken oder helle Glöckchen erklangen und erst nach einer ganzen Wegstrecke weiter plötzlich die Kühe oder Ziegen zu sehen waren.
Wenn im Frühjahr die Kuhherde abends heimkehrte und der Hirte ein Sträußchen mit roten Walderdbeeren am Hut trug, wussten wir, dass es an der Zeit war, die leckeren Beeren zu pflücken. Gerade wir Kinder haben von den Ziegen und Kühen profitiert, bekamen wir doch dadurch zusätzlich Milch und Butter, die wir in unserer Wachstumsphase gut gebrauchen konnten, auch wenn mir die Ziegenmilch nicht geschmeckt hat. Meine Oma hat auch gebuttert und Quark und Käse gemacht. Aber im Krieg war privates Buttern verboten. Die Milch unserer 2 Kühe musste komplett in der Molkerei in Hayn abgegeben werden. Dazu musste die Deckglocke der Milchzentrifuge abgegeben werden. Wir ließen eine nachmachen. Wenn wir die Zentrifuge bedienten, schalteten wir das Radio laut, damit niemand die Geräusche hören konnte... Es flossen also nicht
immer Milch und Sahne wie im Schlaraffenland, aber Not macht erfinderisch und Verbrecher sind wir dadurch sicher nicht geworden.
Wir haben also die Zeit erlebt, wo die Viehhaltung für die Stolberger noch unverzichtbar war. Und wie haben sich die Urlauber über die treppensteigenden Kühe, die Kälbchen und die Glockenklänge gefreut, auch fleißig fotografiert und ihren Kindern gezeigt, wo die Milch herkommt und die frische Milch genossen. Allerdings waren sie von den Hinterlassenschaften auf der Straße, v. a., wenn sie es zu spät bemerkt haben, wenig angetan. Aber trotzdem: die Viehaustriebe waren wirklich ein Höhepunkt für jeden Urlauber, der das miterleben durfte.“
Wir danken Herrn S. Oppermann für sein ständiges aktives Wirken, die Geschichte in Schriften lebendig zu halten! Obiger Text ist ein Auszug aus Nr. 8 seiner Schriftenreihe Frau H. Ostermann, geb. Ehrhardt, (ebenfalls im Büchlein von Herrn Oppermann enthalten) berichtete 1980:
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Alte Postkarte: Der verstorbene Kuhhirte Emil Knape
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Emil Koch, der wohl bekannteste und am längsten tätige Stolberger Hirte (1907 bis 1954)
„Anfang Mai, wenn es in der Natur allenthalben wieder grünte und blühte, wurde die Kuhherde ausgetrieben. Solange ich zurückdenken kann, gab es in Stolberg die Kuhherde von schönen dunkelbraunen Harzkühen. Der Kuhhirte verteilte tags zuvor die Glocken, die den Kühen um den Hals gehängt wurden. Fast jede Glocke hatte einen anderen Klang. Am anderen Morgen blies der Hirte auf dem Marktplatz einen Choral und anschließend das Signal, dass die Leute ihre Kühe auf die Straße lassen sollten. Es sah recht lustig aus, wenn die Kühe mitunter über mehrere Stufen aus den Haustüren kamen. Die Sommergäste bestaunten dies muntere Schauspiel. Abends, wenn die Kuhherde heimkehrte, fand jedes Tier sein Haus und seinen Stall wieder, ging die Haustreppen hinauf und trabte durch den Hausflur in den Stall, der ja hinten im Hof lag...“
Erinnerungen von Dieter Mingramm, der hier auf dem Hof aufwuchs
„Hier auf dem Hof, der einige Jahrzehnte auch Posthalterei war, befand sich der Stall mit den meisten Kühen. Und hier habe ich auch das Melken gelernt. Aber den nachhaltigsten Eindruck, den je ein Mensch in meiner Kindheit auf mich gemacht hat, war Emil Koch, ein Stolberger Original besonderer Art. Von zierlichem Wuchs, stets mit breitrandigem Hut, langem schwarzen Kittel , Lederstiefel, Trompete unter den Arm geklemmt -- und seinem Hund Phylax an der Seite. Auf dem Weg durch die Stadt gab Emil verschiedene Trompetensignale, um anzuzeigen, dass er in Kürze mit seiner Herde stadtaufwärts ziehen wird. Die Kuhhalter konnten sich so auf das Losketten ihrer Tiere vorbereiten.
Emil hatte nur noch wenige Zähne im Mund und so fiel ihm das Blasen der Trompete schwer. Er bastelte sich selbst einen Zahnersatz aus Holz! In vielen Häusern der Stadt befand sich der Kuhstall im Hofbereich, der nur durch den Hausflur und vielfach über steile Vortreppen, zu erreichen war. Es war schon erstaunlich, wie die schwerfälligen Tiere bis zu 10m „Hindernislauf“ bewältigten. Und nicht immer leuchtete es den Rotbraunen ein, dass sie ihr Geschäft erst im Walde verrichten sollten. Also, Eimer und Kehrwerkzeug mussten immer griffbereit stehen.
Es war für mich von besonderem Reiz, neben der Herde mitzulaufen und einmal machte ich in den großen Ferien einen ganzen Tag mit. Ich war 12 Jahre. Mein Rucksack war gepackt mit trockenem Brot, einem deftigen Stück Knackwurst und einer Blechkanne mit Malzkaffee. So hatte man es mir geraten. Meine Aufgabe war es, ein Kalb, das das erste Mal mitging „anzulernen“.
Nachdem der Weidegang bis ca. 13 Uhr gedauert hatte, ging es ins „Lager“, wie Emil stets sagte. Kühe sind Wiederkäuer und um diese Zeit wurde das „Frühstück“ das 1.Mal richtig zerkleinert, nachdem das Gras vorher eigentlich nur in Büscheln hinuntergeschluckt worden war. Wenn sich nach ca.1 Stunde die Leitkuh wieder erhob, ging es weiter - bis zum Abtrieb.
Gegen 19.30 Uhr waren alle Tiere wieder zu Hause. Für mich war dies ein wunderschöner Tag, konnte ich doch mein Patentier wieder wohlbehalten abgeben. Mein Verhältnis zu Emil Koch wurde immer enger. Ich bin öfter mitgezogen. Und eine wichtige Rolle spielte sein Hütehund Phylax. Er verstand die Sprache seines Herrn vortrefflich. Auf Pfiff „in die Spur“ brachte er das Tier, das sich entfernt hatte, zurück. Noch heute zehre ich von den Erinnerungen an Emil Koch, an die Kühe, an die vielen schönen Stunden im Kreise der Männer und Frauen der Kuhgemeinde, wenn z.B. der erste Austrieb im Frühling in geselliger Runde begangen wurde. Ich wurde dort schon als Junge ernst genommen. In den Gesprächen mit Emil erfuhr ich Manches aus der Vergangenheit , lernte Blumen und Pflanzen kennen, die Stimmen der Vögel zu unterscheiden ...bald kannte ich auch alle Wald- und Wiesengebiete um Stolberg, Bergbezeichnungen, Täler, Namen von Bächen und Teichen...
Wenn ich heute an Emils Haus in der Neustadt vorbeigehe, denke ich wehmütig an diese schöne Zeit zurück.“
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Alte Postkarte: Kuhherde an der alten Auerbergstraße auf dem Weg zu den Weiden.
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Wolfgang Knape beschrieb seinen Vater, den letzten Stolberger Kuhhirten, so:
„Nach dem Tod seines Vorgängers Emil Koch übernahm Emil Knape im Sommer 1954 dessen Hund Phylax und Trompete und trieb fortan die Stolberger Kuhherde durch den Ort.
Emil Knape wurde 1920 in Magdeburg Neustadt geboren, wo sein Vater gerade als Mühlenbauer arbeitete. Aufgewachsen ist er allerdings in der Torgauer Gegend. Dort erlernte er das Fleischerhandwerk. Als Geselle kam er nach Leipzig und lernte seine spätere Frau kennen, die aus Stolberg stammte. Die beiden heirateten, und nach dem Krieg kam Emil Knape nun für immer in den Harz. Er legte die Meisterprüfung für das
Fleischerhandwerk ab, erkrankte aber immer wieder schwer. In Phasen, in denen es ihm besser ging, versuchte er sich in unterschiedlichsten Bereichen, arbeitete bei einem Tischler und zu Beginn der Fünfziger Jahre als Bürgermeister der kleinen Gemeinde Rosperwenda bei Rossla.
Als der langjährige Kuhhirte Emil Koch im Frühsommer 1954 verstarb und die Stolberger Kuhhalter dringend einen neuen Hirten suchten, bedurfte es für Emil Knape nur einer kurzen Bedenkzeit. Mit Tieren kannte er sich schließlich aus, und die Aussicht, fortan in Gottes freier Natur arbeiten zu dürfen, kam ihm, der die Natur liebte und oft krank war, sehr entgegen.
Am 1. Juli übernahm er die Stolberger Herde, die damals um die 60 Tiere zählte. Und wie alles, was er in seinem Leben anpackte, widmete er sich auch dieser Aufgabe mit ganzer Liebe, mit Freude und großem Engagement. Ende der fünfziger Jahre gab es nur noch wenige Kuhhalter in dem mittelalterlichen Städtchen. So war es sinnvoll, sich nach einer anderen Arbeit umzusehen. Im Herbst 1959 trieb er die stark dezimierte Herde ein letztes Mal durch den Ort und nahm eine andere Tätigkeit auf. Aber die Sehnsucht nach der Natur und den Kühen meldete sich in ihm wieder.
Als die LPG „Harzerland“ in Breitenstein auf dem Hainfeld bei Stolberg eine große Herde aufbaute und ein erfahrener Hirte für den Waldaustrieb gesucht wurde, sagte er zu. Vom 1. Mai 1961 an arbeitete er wieder als Hirte einer gut einhundertköpfigen Herde, die nun aber keine Rotviehherde mehr war. Die an einer Hand abzuzählenden letzten Stolberger Rotbraunen (die bis dahin der alte Fritz Hoppe tageweise betreut hatte),
nahm er nun jeden Tag mit hinauf aufs Hainfeld, wodurch sie immer einige Kilometer mehr zu laufen hatten als die genossenschaftlich registrierten Vierbeiner. Im November des Folgejahres endete auch diese Tätigkeit.
Emil Knape war danach über zwanzig Jahre im Kinderheim als Hausmeister tätig. Seine Hirtentracht überließ er dem Museum, die letzten Glocken hängte er in seiner Toreinfahrt unters Dach; und wenn später, als er längst in Rente war, die Stadtführerin durch die Hintergasse kam und bei ihm klingelte, dann öffnete er gerne das Tor und erzählte den Ortsfremden von diesen schönen und vergangenen Zeiten und von der Bedeutung der Harzkuh.
Die Aktivitäten des „Vereins zur Erhaltung der Harzkuh und der Harzziege e. V.“ hat er stets mit großem Interesse und Freude begleitet. Am 15. Apri1 2004 verstarb mit Emil Knape der letzte Kuhhirte von Stolberg.
Dass fünf Harzer Hirten - alle Vereinsmitglieder und zum Teil selbst Züchter - bei seinem Begräbnis die Ehrenwache hielten und an seinem Grab das Austriebssignal geblasen wurde, dürfte sich allen, die es erleben durften, als etwas Unwiederholbares eingeprägt haben.“ |
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Kuhherde in der Neustadt
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