Eines Tages hatte es so viel geschneit, dass wir gar nicht zur Schule hinkamen (damals noch im Rathaus). Mutter sagte: „Wartet nur, Vater wird gleich mit dem Schneepflug da sein!" Wir hörten schon leises Glockengeläut vom Ludetal her. — Vater war schon bis zum Tannengarten gewesen und den Beckersberg runtergefahren. Aber wer saß da jetzt alles auf dem Schneepflug? Revierförster Münch saß bei Vater vorne auf der Bank, in der Mitte sein jüngster Sohn Paul, dann die Hahnemänner und Hepachs vom Hainfeld. Wir waren noch zwei Schulkinder, mein Bruder Karl und ich. Für uns beide war gerade noch Platz und schon gings ab, gerade noch rechtzeitig um 8 Uhr zum Unterricht.
Unser Adventsbäumchen hatte jetzt 3 Kerzen, noch in dieser Woche gab es Weihnachtsferien und damit die Marken für die Pfefferkuchen, die jedes Kind aus Stolberg zum heiligen Abend im Schloss erhielt. Sie waren lila, so groß wie eine Postkarte, der springende Hirsch — das Wappen der Stolberger Fürsten und eine Zahl waren drauf. Zum ersten Mal ging der Traum in Erfüllung, dass ich so einen Honigkuchen bekommen sollte. Die Vorfreude und Aufregung waren riesengroß. Es war grimmig kalt geworden , der Schnee knirschte unter den Schuhsohlen.
Die Tannenbäume aus den fürstlichen Forsten waren im Jägerhaus verkauft worden. Im Haus roch es schon nach Tanne und Harz, nach Honigkuchen und Kerzen, alles wurde für das Weihnachtsfest vorbereitet.
Mein Vater hackte oft in dieser kalten Jahreszeit den Bach hinter unserem Hause auf. Heu und Küchenabfälle wurden für die Tiere hingestreut, denn Hunger und Durst trieb sie in die Nähe der menschlichen Behausungen. Sie standen noch abwartend zwischen den Erlen und kamen erst näher, wenn wir ins Haus gingen. Auch die kleinen Vögel wie Meisen, Drosseln, Buchfinken und natürlich Sperlinge fanden sich reichlich auf unserem Hühnerhof ein, wo der Tisch jeden Tag auch für sie einige Male gedeckt war. Es kam auch vor, dass der Hühnerhabicht eine fette Henne holte.
Die Wecken waren schon längst bei Kuno Maier gebacken worden, sie mussten wenigstens 3 Wochen alt sein, wenn sie zum Fest schmecken sollten. Plätzchen wurden als Behang für den Weihnachtsbaum gebacken, da waren Sterne, Herzen, Brezeln und Kringel, es war eine Herrlichkeit. Manchmal haben wir sogar den Korb oder Kasten gefunden, in denen sie aufbewahrt wurden.
Oft gab es auch Wildfleisch vom Schloss, dieses musste vorher bestellt werden. Das Pfund kostete 0,28 Reichsmark. Der alte Klingsch brachte es mit dem Handwagen ins Haus. Wenn dieser Braten einige Tage vor Weihnachten kam, verstand es unsere liebe Mutter, diesen köstlich zuzubereiten.
24. Dezember 1910 !!! Um fünf Uhr mussten wir auf dem Markt sein um zum Laternenumzug anzutreten. Schon mittags hatte Mutter Schuhe und Mäntel warm gelegt, es gab Striezel und heißen Kaffee — ohne diese Stärkung hätte sie uns nicht fortgelassen. Die Sterne funkelten heute besonders hell, die Kälte merkten wir vor Aufregung gar nicht. Unsere Laternen lagen schon tagelang bereit und als wir damit vor die Haustür traten, sahen wir schon die Kinder von Hagens, die auf dem Tritte warteten. Von Haus zu Haus wurden es mehr Kinder, da waren Hellmuts, Georgis, Hahns, Friedrichs, Ehrings, Karthäusers, Reidemeisters, Heideckes und viele andere vertraute Gesichter. Nun waren wir schon ein ganz schöner Trupp und vor lauter Laternen sah man keine Kinder. Die Lehrer brachten Ordnung in den Haufen, Rektor Magnus war, da um uns manches Mal zu ermahnen."
[Auszug aus der Reihe: 'Geschichten, Schnärzchen, und andere Begebenheiten von und über Stolberg/Harz, Heft 4 - 100 Jahre Schule, nach Erzählungen von Stolbergerinnen und Stolbergern', mit freundlicher Genehmigung von S. Oppermann.]
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